Wenn wir an Brasilien denken, woran denken wir dann? Karneval in Rio, die Jesus-Statue auf dem Zuckerhut, die Copa Cabana. Brasilien ist der Handlungsort des Kinderfilms „Rio“, mit dem süßen blauen Papagei, und ein beliebtes Urlaubsziel. Aber auch im Alltag haben wir mehr Kontakt zu dem großen Land in Südamerika als wir denken. Hattest du heute schon eine Tasse Kaffee? Dann ist es gut möglich, dass du heute schon mit Brasilien in Kontakt gekommen bist, denn über 40 % der Deutschen Kaffeebohnen-Importe kommen aus Brasilien, mehr als aus jedem anderen Land. Trägst du gerade Kleidung aus Baumwolle? Auch dann bist du vielleicht mit Brasilien in Kontakt gekommen, denn Brasilien exportiert weltweit die meiste Baumwolle. Das gleiche gilt für Rindfleisch, wenn du also heute einen Burger zu Mittag gegessen hast, könntest du mit Brasilien in Kontakt gekommen sein.
Der atlantische Regenwald - ein einzigartiges Stück Natur
Auch die Natur in Brasilien hat einiges zu bieten, denn es ist das Land mit der weltweit meisten Fläche Regenwald. Am bekanntesten ist der Amazonas-Regenwald im Nordwesten, doch es gibt auch noch den Atlantischen Regenwald (Mata Atlântica). Dieser erstreckt sich entlang der Atlantikküste im Osten des Landes und im Landesinneren bis nach Paraguay und Argentinien. Regenwälder werden häufig als „Grüne Lunge der Erde“ bezeichnet, weil sie große Mengen Kohlendioxid speichern, außerdem sind Regenwälder Hotspots der Artenvielfalt.
Der Atlantische Regenwald ist hinsichtlich der Artenvielfalt einzigartig, da er sich aus verschiedenen „Waldtypen“, also Gebieten, in denen unterschiedliche Umweltbedingungen herrschen, zusammensetzt. Die beiden häufigsten Typen, die zusammen den größten Teil des Mata Atlântika ausmachen, sind der „immergrüne” und „halbimmergrüne” Regenwald. Der östliche Rand des Waldes, nahe der Küste, ist der „immergrüner Regenwald“, mit hoher Luftfeuchtigkeit und ohne Trockenzeiten. Weiter im Landesinneren, in Gebirgsregionen, die mehr als 600 m über dem Meeresspiegel liegen, findet man den „halbimmergrünen Regenwald“, in dem die Temperatur niedriger ist und es eine Trockenzeit gibt, die etwa 3 – 4 Monate anhält.
Die vielfältigen Umweltbedingungen sorgen auch für eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt. Im atlantischen Regenwald leben mehr unterschiedliche Arten als im (wesentlich größeren) Amazonas Regenwald. Viele davon sind endemisch für dieses Ökosystem, kommen also nirgendwo sonst vor.
Eine Geschichte der Zerstörung
Um den jetzigen Zustand des Regenwaldes zu verstehen, müssen wir seine Geschichte verstehen:
Im Jahr 1500 betreten portugiesische Seefahrer erstmals das Land und nehmen es in Besitz für die Portugiesische Krone. Nach dem Beginn des Kolonialismus in Brasilien dauerte es keine weiteren 500 Jahre, bis ein Großteil des atlantischen Regenwaldes zerstört war.
Die Geschichte des atlantischen Regenwalds und den dort lebenden Menschen ist aber deutlich älter. Schätzungen zufolge lebten vor der Ankunft der Europäer bereits drei bis vier Millionen Menschen im atlantischen Regenwald. Bereits damals haben menschliche Aktivitäten die Landschaft verändert und Spuren hinterlassen.
Wo indigene Gruppen allerdings Spuren hinterlassen, hinterlässt der europäische Kolonialismus ein Trümmerfeld.
Mit den portugiesischen Siedlern kam eine neue Form der Landwirtschaft: Plantagen, gekennzeichnet durch das Nutzen großer Flächen, einer großen Anzahl von Sklaven und dem spezialisierten Anbau eines Hauptprodukts. Durch die Aneignung und Modifizierung indigenen Wissens entstehen riesige Zuckerrohr-Plantagen. Mit der Zuckerrohr-Expansion müssen mehr und mehr Flächen erschlossen werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewinnt Kaffee als internationales Produkt an Wert. Der Anbau von Kaffee im atlantischen Regenwald bringt eine Phase der Waldrodungen mit sich, die als eine der intensivsten und schnellsten in der Geschichte der Menschheit gilt. Der Verlust von Wasserressourcen und Artenvielfalt gehören zu den Konsequenzen.
Die ehemals dicht bewachsene Fläche des Regenwaldes wurde und wird in Städte, Weideland und Felder verwandelt. Viele Pflanzenarten werden dabei ausgerottet und einheimische Tiere sterben, weil sie keinen geeigneten Lebensraum mehr finden. Die Vielfalt von Pflanzen und Tieren - die „Biodiversität“ des atlantischen Regenwaldes - geht also steil zurück und der Verlust der Biodiversität ist ein Teufelskreis, der sich auch auf das gesamte Ökosystem auswirkt.
Dass es um die Regenwälder der Erde nicht gut steht, habt ihr wahrscheinlich schon gewusst. Wahrscheinlich war euch auch bereits klar, dass Regenwälder eine enorme Bedeutung für Mensch und Natur haben und wahrscheinlich hättet ihr diesen Beitrag auch nicht bis hierhin gelesen, wenn euch diese Naturzerstörung nicht bewegt und ihr euch fragt, was man dem entgegensetzen kann.
Bleibt dran! Erzählungen über den Regenwald sind nun mal nie kurz und die Realität sieht tatsächlich nicht so rosig aus. Eine natürliche Regeneration eines Regenwaldes, in dem sich bedrohte Tier- und Pflanzenarten erholen können, würde viele Jahre dauern.
Eine Wiederherstellung durch den Menschen ist eine große Herausforderung. Es ist eine Herausforderung, aber keine “Mission Impossible”.
Die Fazenda Bulcão
Es gibt unzählige Menschen, die ihr Leben der Bewahrung und Regenerierung der Natur widmen. Um diese Personen also sichtbar zu machen, soll hier eine ihrer Geschichten erzählt werden:
Vor den Augen von Sebastião Salgado erstreckt sich eine 600 Hektar große Wüste. Der Boden, der in Salgados Kindheitserinnerung noch Heimat für zig verschiedene Pflanzen –und Tierarten war, ist jetzt vollständig vertrocknet. Wie kam es dazu?
Sebastião Salgado wird 1944 im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais geboren. Mit seinen Schwestern wächst er auf der Farm seines Vaters auf, der Fazenda Bulcao. Das Land war zu einem großen Teil von dichtem Regenwald bedeckt. Im Jahr 1969 flieht er mit seiner Frau Lélia Salgado vor der brasilianischen Militärdiktatur nach Paris und wird dort als Fotograf bekannt. Er dokumentiert überall auf der Welt humanitäre Katastrophen. Eine Arbeit, die seinen Blick auf die Menschheit verändert. Gegenüber der New York Times erklärt er:
„I was so upset to be a human being. Because I saw the amount of violence that we are capable of. We are a terrible species. I gave up photography.“
“Ich war sehr aufgebracht darüber, ein Mensch zu sein. Denn ich habe das Maß an Gewalt gesehen, zu dem wir Menschen fähig sind. Wir sind eine furchtbare Spezies. Ich habe die Fotografie aufgegeben.”
Lélia und Sebastião Salgado kehren 1998 zurück nach Minas Gerais, um sich um die Farm seines erkrankten Vaters zu kümmern. Doch der Zustand der Farm ist katastrophal. Die Landwirtschaft auf diesem Grundstück ernährte früher bis zu 30 Familien. Aber wo früher ein Hektar Weideland für vier Kühe ausreichte, braucht man jetzt einen Hektar pro Kuh. Die 200 Kilo schweren Tiere trampeln den Boden mit der Zeit so platt, dass er kein Wasser mehr aufnimmt und vertrocknet. Die Regenmenge und der Grundwasserspiegel sind drastisch gesunken.
Zustand der Fazenda Bulcao zu Beginn von Sebastiao Salgados Arbeit - geteilt auf dem offiziellen Facebook-Account des "Instituto Terra" am 3.6.2025
Viele Landwirte haben mit diesen Problemen zu kämpfen. Durch den weltweit steigenden Konsum und das allein auf Gewinn ausgerichtete Vorgehen großer Konzerne wurden nicht-nachhaltige Anbauweisen etabliert, die die Natur stark belasten. Ausgerechnet dadurch wird es immer schwieriger, Landwirtschaft zu betreiben, dabei ist diese ein wichtiger Bestandteil der Brasilianischen Wirtschaft und die Lebensgrundlage vieler Menschen.
Um weiter ertragreich wirtschaften zu können, müssen die Bauern viel zusätzliche Arbeit aufwenden: gegen den Nährstoffverlust werden große Mengen Düngemittel eingesetzt. Um den Mangel an Regen und Grundwasser auszugleichen, werden große Mengen Wasser aus den umliegenden Flüssen entnommen. Als letzter Ausweg wird schließlich oft noch mehr Regenwaldfläche gerodet. Ein Teufelskreis der Zerstörung, unter dem besonders familiäre Betriebe mit begrenzten finanziellen Möglichkeiten leiden.
So wie es war, soll es wieder werden
Aber so wie einem das Gefühl der Frustration überkommen kann, wenn man erkennt, zu wie viel Brutalität und Zerstörung Menschen fähig sind, so kann einem auch der Wille überkommen, Initiative zu ergreifen und aktiv zu werden, wenn man erkennt, dass es so viel besser sein könnte. Genau das passierte dem Ehepaar Salgado.
Da Sebastião als bekannter Fotograf den Luxus hatte, nicht auf die Erträge der Farm angewiesen zu sein, startete er ein Renaturierungsprojekt. Angestoßen wird alles von der Idee Lélias, eigentlich war es nur ein Vorschlag um der Familie Mut zu machen. Die beiden beginnen Setzlinge zu pflanzen und so wird aus der Idee Realität, ein Projekt, das den Namen „Instituto Terra“ (Institut Erde) trägt. Der Anfang erweist sich als sehr schwierig. Es gab eben kein Buch darüber, wie man den atlantischen Regenwald aufforstet. Was ihnen also blieb war zu versuchen, zu scheitern, neu zu überlegen und es wieder zu versuchen. So lehrte die Erfahrung ihnen, dass junge Bäume auch an trockenere Phasen gewöhnt werden müssen, bevor man sie der Wildnis überlassen kann. Mit der Zeit entwickelt sich so mithilfe zahlreicher Mitarbeitender ein ausgeklügeltes und komplexes System. Durch diese Bemühungen wiederum wachsen innerhalb von 20 Jahren 2,7 Millionen Bäume.
Was dort nun entstanden ist, ist nichts weniger als ein tropischer Regenwald, dem es an Vielfalt nicht fehlt: 172 Vogelarten, 33 Säugetier- und 293 verschiedene Pflanzenarten bewohnen den dichten Wald mittlerweile.
Das “Instituto Terra" weitet seine Arbeit auch über die Farm hinaus in das Einzugsgebiet des Rio Doce, einem der längsten Flüsse des atlantischen Regenwaldes, aus. Die Organisation bietet ein Programm an, mit dem Bauern einen Teil ihres Grundstücks wieder aufforsten und so bestehende Quellen schützen können. Zahlreiche Menschen melden sich zur Weiterbildung auf dem Gelände an und lernen, wie man nachhaltig Landwirtschaft betreibt. Aus dem Projekt ist eine Idee geworden, eine Idee, die allen gehört. Das Wissen, das dort entstanden ist, kann weitergegeben und angewendet werden.
Gelände des"Instituto Terras" im Jahre 2022 - geteilt in einem Facebook-Beitrags des offiziellem Accounts des "Instituto Terra", vom 23. Juni 2025
So unterschiedlich das Handeln von Sebastião und seinem Vater auch war, eine Sache haben sie aber trotzdem gemeinsam. Beide Aktivitäten hatten Auswirkungen, die über den ursprünglichen Plan hinausgingen. Kein Eingriff in ein komplexes Ökosystem (und jedes Ökosystem ist komplex) bleibt für sich allein stehen: mit dem Fällen der Bäume verschwindet auch das Wasser, der Grundwasserspiegel sinkt und der Boden erodiert und vertrocknet. Mit dem erodierten Boden verschwindet schließlich auch das Futter für die Tiere und somit auch die Lebensgrundlage für uns Menschen.
Mit dem Pflanzen der Bäume lockert sich der Boden. Mit dem gelockerten Boden kommt das Wasser wieder und mit dem Wasser kommen die Tiere. Diese Erkenntnis hatten auch Lélia und Sebastião Salgado. Als seine wichtigste Erkenntnis sieht er das Bewusstsein, dass er Teil der Natur ist. Die Vorgehensweise des Instituto Terra ist ein Spiegel für das Verständnis von Natur, welches die beiden entwickelt haben. Sie selbst sehen zwischen einem Menschenrechts- und einem Umweltaktivisten keinen Unterschied.
Und jetzt?
Was können wir nun mitnehmen aus dem Projekt “Instituto Terra”? So wie Sebastião vor der vertrockneten Farm seines Vaters stand, stehen wir alle momentan vor einer Flut von schlechten Nachrichten über zusammenbrechende Ökosysteme. 2,7 Millionen Bäume in Brasilien zu Pflanzen sprengt für die meisten von uns vermutlich den Rahmen. Was wir allerdings können, ist uns denjenigen anschließen, die diese Wunder möglich machen. Die gegen die Abholzung von Regenwäldern kämpfen und für einen respektvollen Umgang mit der Natur. Ein paar dieser Initiativen haben wir euch unten verlinkt. Außerdem ist der atlantische Regenwald nur eins von unzähligen Ökosystemen. Auch direkt vor unserer Haustür gibt es Natur, die genauso bedroht und genauso schützenswert ist. Wie sieht es zum Beispiel mit der Flächennutzung in eurer Stadt, oder sogar in eurem Vorgarten, aus? Statt ihn nur mit Kies zu bedecken, könntet ihr ein Beet mit Wildblumen anlegen, in dem unsere heimischen Insekten Schutz und Nahrung finden.
So oder so sollten wir mit unseren Plänen dort anfangen, wo die Reise der Salgados endete: mit der Erkenntnis, dass wir ein Teil der Natur sind.
Instituto Terra
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